Bilder machen – Über den Ausblick als Kuratorisches Problem
Publikation / Vortrag
Der Ausblick, die Qualitäten des Fensters und sein szenografisches Potential stellen nicht in erster Linie ein entwerferisches, sondern ein kuratorisches Problem dar. Die Schärfung des Bewusstseins für die Installation des Blicks basiert auf einer längeren Tradition in der Architektur- und Kunstgeschichte, die in den folgenden Ausführungen von der Landschaftsmalerei zur Architektur des Fensters bis hin zum architektonischen Trompe-l’œil des Landschaftszimmers und dem bühnenbildartig inszenierten Blick auf die Stadt führt.
Der sehnsuchtsvolle Blick
Das voyeuristische Spiel von Ein- und Ausblick hatte Alfred Hitchcock in seinem Film Rear Window 1954 nachgezeichnet, indem sich das Hofleben in den Ferngläsern des Pressefotografen Jeff und seiner Verlobten Lisa Fremont abspielt. Als Gegenstück zu Hitchcocks Blick auf den Hof, deutet die amerikanische Stadtkritikerin Jane Jacobs, in ihren Studien zum Greenwich Village, die Funktion des Fensters als Augen auf die Strasse. “(Es) müssen Augen auf die Straße gerichtet sein, Augen, die denen gehören, die wir die natürlichen Besitzer der Straße nennen können.”(1) Die Besitznahme der Aussicht ist ein Grundmotiv für viele Überlegungen im architektonischen Entwurf, die die Wahl der architektonischen Mittel bestimmt. Dergestalt sind die Setzung von Fenstern und der Entwurf der Fassade immer eine kuratorische Herausforderung. Dies berührt einerseits die Frage der (Aus)Wahl des Ausblicks und setzt andererseits die Frage nach der Blickstrategie, also die gezielte, nach einem Konzept gewählte Szenografie der Aus- und Einblicke ins Bild.
erfindet das Panorama,
Das Sehnsuchtsmotiv prägt die Erfindung des Panoramas im 18. Jahrhundert. Davor verdanken wir den Vedutenmappen in der Tradition der Merians oder Piranesis den Bildbeweis für die Reisetätigkeiten einer gesellschaftlichen Elite, beispielsweise auf der Grand Tour. Gerade die Motivation zur Studienreise ist auch heute noch aufs Engste mit der Redewendung des “Bilder machens“ verbunden.(2) Der Ausdruck verweist explizit auf die Konstruktionsarbeit und Subjektivität der Wahrnehmung. Neben ihrer Funktion als Statussymbol dienten Reiseansichten auch immer als Reise-Ersatz.
Das Panoramabild selber wird bezeichnenderweise aber erst populär, als die Erfindung der Eisenbahn den Reisetourismus zu einer Industrie für eine breite Bürgerschaft werden lässt. Gerade die Vorwegnahme des kinoartigen Unterhaltungseffekts der Panoramen basiert auf deren raffinierte Blickführung.
Der Ire Robert Barker, der als Erfinder des Panoramas gilt, ließ sich zur Perfektionierung der Illusion durch den Architekten Robert Mitchell ein Gehäuse für seine Bilder am Londoner Leicester Square bauen, wo er ab 1793 zwei Gemälde gleichzeitig zeigen konnte.
Erst mit diesem Panorama-Gebäude funktionierte die Beschreibung aus Barkers Patent: Der Betrachter stand mitten im Bildinneren. Sein Gesichtsfeld konnte keine Grenzen mehr ausmachen, was zu einer Realitätsillusion führte. Die Bildränder waren durch Staffagen abgedeckt. Zur Steigerung der Inszenierung hat man einen Weg durch einen abgedunkelten Gang zu gehen (Distanz zur realen Stadt), um im hellen Panorama aufzusteigen. Die Belichtung des Bildes erfolgte durch unsichtbare Lichtquellen, beispielsweise der Dachfenster. Eine Rampe ermöglicht Distanz zum Bild und dadurch eine allseitige Sicht (Panorama: Griechisch “Allansicht“).
genießt die grenzenlose Weite,
In den Außenraum übersetzt beschreibt der Begriff der “borrowed view“ im Englischen Landschaftsgarten die raffinierte Blickführung entlang eines geschlängelten Spazierweges, indem präzise gesetzte Baumgruppen Blicke in die Tiefe des Landschaftsraumes freigeben, die auch über die Grundstücksgrenzen hinausweisen können. Zur effektvollen Erzielung eines sublimen Schauers werden Grenzen in Form von unsichtbaren Mauern und Gräben(3) visuell aufgelöst. Dadurch scheinen Vorder- und Hintergrund zusammenzufallen. Der spazierende Betrachter fühlt sich der wilden Natur ausgesetzt, denn “wilde Tiere“ scheinen bedrohlich nahe kommen zu können. Gleichzeitig rücken fern vermutete Ziele, wie Berg- oder Stadtsilhouetten plötzlich in den Blick.
Die Verkehrung des Fokus’ hin zu einem Entwurf des Blicks, nicht der rahmenden Architektur, offenbart sich am Eingänglichsten in der Legende des Bauherrn der Villa Malaparte auf Capri, der dem Besucher Erwin Rommel auf die Frage, ob er das Haus selber entworfen habe, geantwortet haben soll: “Nein, nein, ich habe es so gekauft, aber die Umgebung habe ich entworfen, die Insel und den Golf.“(4)
schwankt zwischen Innen und Außen,
Das Blickmotiv steht neben der Frage der Inszenierung im Zentrum der weitere Ausführungen. Dies wird in der künstlerischen Reflexion der Tradition der Landschaftsmalerei und den Motiven des Erhabenen und Arkadischen besonders einprägsam. Als Bespiel einer Neuinterpretation dieses Topos dient eine Arbeit des kanadischen Foto- und Videokünstler Stan Douglas (1960). Seine Foto-Serie Cuba (2004) gibt Rätsel auf: Wir sehen einen präzise rund gerahmten Blick aus einem abgewetzten Treppenhausraum. Im Ausblick erscheint eine fruchtbare, üppig grüne Landschaft. Die symbolische Kontextualisierung vermittelt sich nicht unmittelbar. Die kyrillischen Zeichen an der Wand stammen von Kindern aus der Ukraine, die sich nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl auf Kuba erholen durften. Der rund gerahmte Blick ins sozialistische Arkadien wird von den innenseitigen Spuren des modernen Grauens überlagert: die fruchbare Landschaft mit furchtbaren Kindererinnerungen. Im Foto wird der Besuch der Katastrophe im Idealen manifest.
Landschaft und Kunst
Eine Umkehrung des Gastprinzips des Idealen in einer unwirtlichen Umgebung beschreibt die Tradition des Trompe-l’œils und der gemalten Landschaftszimmer als deren architektonischem Display.
Mag der Ausblick auf die umgebende Landschaft nicht ausreichend zu befriedigen, wie am Beispiel der gemalten Innenhof- oder Gartenblicke in Pompeji, der Blicke in himmlische Höhen bei Kirchendecken oder aus Gründen des Standesbewusstseins wie bei vielen Villen Andrea Palladios im Veneto, behilft man sich Illusionstechniken wie der Malerei.
Interessanterweise gründet die Villenkultur von Palladios Auftraggeber auf der Tatsache, dass die landwirtschaftliche Produktion kontrolliert werden musste. Erst in zweiter Linie diente der Landsitz auch der Erholung und der Repräsentation des gesellschaftlichen Selbstverständnisses der Landherren. Dieser Spagat wird durch den Einsatz von Fresken gemeistert. Bei Palladios Villa Barbaro in Maser befinden sich die Fresken im Mittelbau. Die Seitenflügel dienten dem landwirtschaftlichen Betrieb, waren Ställe und Taubenschläge.
Der idealisierte Blick nach draußen maskiert die genutzte Landschaft, die zerfurcht und ausgebeutet wird. Die räumliche Vorstellung der Stadt ist in der Villa naturgemäß nie präsent. Der Umgebung wird ein Arkadienmotiv vorgeblendet. Das gemalte Arkadien verweist auf die ideale unberührte Landschaft. Darin werden oft wieder Villen abgebildet, als “Villa in der Villa“(5). Sie manifestieren den sozialen Geltungsanspruch, der sich künstlerisch ausdrückt. Dadurch gelangen die Themen wie Setzung und Abbild des Fensters als kuratorische Fragestellung in die Sphäre der symbolischen Propaganda.
Für Paolo Veroneses Arbeit als Maler gilt die Villa Barbaro als Hautwerk.(6) Der Venezianer hat es zu einer wahren Perfektion gebracht. Man kann zwischen Täuschung und Realität fast nicht mehr unterscheiden. In der Villa Barbaro gleichen sich Architektur, sichtbar in der Rahmung, und die Wanddekorationen an.
Diese Rückbesinnung auf die ideale Landschaft erfolgt gewöhnlich zum Zeitpunkt ihres Verlusts. Auch beim Aufbruch der Stadt in die Industrialisierung ist im 18. Jahrhundert eine verstärkte Nachfrage nach Landschaftstapeten auszumachen. Die Motive sind die alten. Als Beispiel seien die erhöhten Seitenbereiche des erdgeschossigen Gartensaals im Schloss Albrechtsberg in Dresden erwähnt. Jeweils zwei Motive treffen sich am Kaminfeuer in den Ecken des Gartensalons: Im Westen begegnen die Alpen der Pompeijschen Landschaft Italiens. Im Osten trifft die Landschaft am Bosporus auf die Pyramiden Ägyptens.
und erkennt die Stadt als Bühnenbild,
Was im Arkadienmotiv der Landschaftsmalerei und im Landschaftszimmer noch als suggeriertes Ideal auftaucht, wird beim erstarkten Bürgertum zum Spiegelbild ihres neuen Selbstverständnisses. Die Verlandschaftlichung der Berliner Innenstadt durch den Architekten Karl Friedrich Schinkel (1771-1841) steht symptomatisch dafür. Die bürgerliche Selbsterfahrung zeigt sich in seiner Wegführung in die neu konzipierten Typologien, wie dem Museum oder dem Theater: Die neue Stadterfahrung auf dem Gendarmenmarkt wird bei der Eröffnung des Hauses gar als Bühnenbild ausgestellt. Der aufgeklärten Bürgerschaft, die sich zur Unterhaltung im Theater trifft, wird der neu gebildete Stadtraum von Schinkel präsentiert. Man tritt ein ins Theater und blickt gewissermaßen gleich wieder hinaus. Das Stadtbild ist Spiegelbild eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins.
blendet noch lieber aus,
Der theatralische Effekt wird in Le Corbusiers Dachwohnung für Charles de Beistegui (1930-31) an der Champs-Elysées ausgebaut. In dieser Wohnung zeichnet Corbusiers seine Vision von Paris aus dem Plan Voisin modellhaft nach: Die Stadt wird zur Bühne und der Dachgarten zum Landschaftszimmer.
Im Entwurf des Plan Voisins hat Le Corbusier 1925 eine radikale Entscheidung getroffen: Nicht die gesamte Stadt Paris sollte einer neuen modernen Stadt geopfert werden, sondern nur ein geistloser Großteil. Der Geist von Paris sollte durchaus erhalten bleiben, nicht nur strukturell, sondern auch materiell. Dies erreicht Corbusier durch die Erhaltung der Monumente wie Sacré-Cœur, Triumphbogen und Eiffelturm. “Ca c’est Paris!“ ist das Paris in Corbusiers Augen. Seine Auswahl ist der Arbeit eines Kurators und dem Sammlungsprinzip vergleichbar. Sammeln heißt weglassen. Nur eine ganz bestimmte Auswahl bleibt. Corbusier betrachtet in diesem Penthouse-Entwurf die Stadt als Sammlung (7), die sich durch eine raffinierte Blicktechnik entfaltet.
Der Dachaufbau auf dem sechsgeschossigen Haus ist weniger zum Wohnen gedacht als für Feste, Empfänge und Ausschweifungen aller Art. Der Hausherr ist kein gewöhnlicher. Er ist ein reicher Phantast, Anhänger des Surrealismus, Kunstsammler und bewundert Ludwig den Zweiten von Bayern. Das Raffinement beschränkt sich denn auch nicht auf die Wohnlichkeit, sondern die Inszenierung des Blicks auf die Stadt, der zuerst durch eine umfassende Außenmauer und grüne Hecken ausgeblendet wird. Das Penthaus ist ein Manifest. Alle anfänglichen Erwartungen der Besucher werden unterlaufen, und durch die Vorstellung ersetzt. Man sieht erstmal nur noch den Pariser Himmel. Ein Ozeandampfergefühl stellt sich ein, die bekannteste Chiffre der modernen Architektur überhaupt.
“In der endgültigen Fassung des Projekts werden alle Terrassen von einer Hecke umsäumt, die genügend hoch ist, um den Blick in die Weite zu lenken, während Topfbäumchen, eine Eibe und ein blumiger Rasenteppich die Gartenecke schmücken. (...) Die Horizontale wird punktuell rhythmisiert: die Eiffelturmspitze im Süden, die obere Hälfte des Triumphbogens im Westen, der Hügel von Montmartre und das Sacré-Cœur im Nordosten. Eine elektrische Vorrichtung erlaubt es, die Hecke der oberen Terrasse im Osten nach Belieben zu verschieben: und die monumentale Achse Concorde – Tuilerien – Louvre – Notre Dame erscheint in ihrer vollen Wirkung.“(8)
steigt in die Höhe und sieht:
Verstärkt wird diese distanzierende und zugleich erhöhende Haltung durch den Einbau eines Periskops, wie es in U-Booten Anwendung findet. Erst dadurch kann ein richtiger und zusammenhängender Ausblick auf Paris erhascht werden. Erst durch das Eingeschlossen-sein im kleinsten Raum offenbart sich der gesamte Rundblick auf Paris im Überblick.
(1) Jane Jacobs, Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Braunschweig 1993, 3. Aufl. (Orig. 1961, The Death and Life of Great American Cities), S. 32
(2) Joseph Imorde, Jan Pieper (Hg.) Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2008
(3) Zur Erfindung der Ha-ha-Mauer und anderen Grenzphänomenen jüngst siehe: Linda Pollak, Die abwesende Mauer und andere Grenz-Fragen, Raumkonstrukte und Geschlecht, in: Daidalos 67/1998, S. 94-106
(4) Bruno Reichlin, Carlo Mollino – Bauen in den Bergen, in: Daidalos 63/1997
(5) Reinhard Bentmann, Michael Müller, Die Villa als Herrschaftsarchitektur, Eine kunst- und sozialgeschichtliche Analyse, Hamburg 1992
(6) Ebd., S. 102-104
(7) Wilfried Kühn, Tabula Rasa und dergleichen, in: Umbau 18, Wien 2001, S. 51-64
(8) Sylvain Malfroy, Der Außenraum ist immer ein Innenraum, in: Werk, Bauen + Wohnen 6-1994, S. 39
Zeitraum: 10.12.2010
Team:
Roland Züger
Originaltext:
Roland Züger, Vom Bilder machen – Über den Ausblick als kuratorisches Problem, in: 10117 Berlin, Prof. Ute Frank. FG Baukonstruktion + Entwerfen, TU Berlin 2010