Kessel und Züger Architekten

Aus der Vielfalt schöpfen


Es war ein grauer Regentag in Berlin. Ideal für eine Recherche in der Bibliothek, dachten sich wohl beide, bevor sie sich dort trafen. Man kannte sich flüchtig von Kursen, studierte an verschiedenen Hochschulen: Florian Kessel an der Technischen Universität, Roland Züger an der Universität der Künste. In den legendären Seminaren über Karl Friedrich Schinkel, dem prägenden Architekten Berlins, saßen sie in der hintersten Reihe – nebeneinander. Hier ging es um Raumbildung und Stilistik der Schinkelschen Klassik, die beide bis heute bewundern.

Theorie mit Praxis verbinden


Ihr gemeinsames Interesse und Grund für lange Gespräche in der Bibliothek galt 2002 den neuen Tendenzen in der Schweizer Architektur. Das Fundament dafür bildete das Gaststudium an der ETH Zürich von Florian Kessel. Im Schweizer Roland Züger fand er einen Gesprächspartner.

Die Schweizer Architektur als sogenannte Swiss Box war um das Jahr 2000 international gerühmt: kräftige Baukörper, handwerkliche Ausführungsqualität, Präzision in Konzept und Detail.

Aus diesem geteilten Interesse an der Schweizer Architektur entstand ein Konzept für eine Ausstellung, das die beiden 2006 als ihr erstes gemeinsames Projekt in der renommierten Berliner Galerie Aedes zeigen konnten. Swiss Shapes nannten sie diese neue Tendenz, welche die bis dahin viel besprochene Swiss Box ablösen sollte. Nach dem vielbeachteten Auftritt in Berlin,  der dank der Unterstützung durch die Schweizer Botschaft realisiert werden konnte, war die Ausstellung in der Folge auch in Barcelona zu Gast. Recherchen, wie jene zur Schweizer Architektur, haben Florian Kessel und Roland Züger immer wieder verbunden: So fand Theorie zur Praxis und umgekehrt. Das bot den Anlass für weitere Projekte. Als logische Folge bildete die Ausstellungsgestaltung ein wichtiges Standbein der Partnerschaft von Kessel und Züger. So haben sie mittlerweile Ausstellungskonzepte für die Staatliche Kunstsammlung, das Kunsthaus, die Technischen Sammlungen (alle in Dresden), das Bauhaus Dessau, die Kunsthalle der Kunsthochschule Berlin Weißensee, das Architekturforum Zürich oder für den Deutschen wie den Schweizer Pavillon auf der Biennale Venedig entworfen.

Bei keiner anderen Aufgabe ist das Konzept so prägend und die Gestaltung so bestimmend für die Atmosphäre eines Raumes. Gleichzeitig bildet die Ausstellungsgestaltung immer den Hintergrund für die Exponate. Dieses Grundverständnis leitet die Architektur von Kessel und Züger bis heute. Und so prägt die Neugierde auf aktuelle Tendenzen deren Arbeitsmodus, vom rechercheorientierten Entwerfen bis zum Verständnis fürs Teamwork.

Architektur als sinnlicher Rahmen


Einen Rahmen zu kreieren verbindet die Ausstellungsgestaltung mit allen anderen Spielarten des Architekturentwurfs – auch fürs Wohnen. Hier kommt jedoch eine neue Komponente hinzu: der Schutzaspekt der Architektur als essenzielle Aufgabe, die nicht im Flüchtigen wie bei einer Ausstellung, sondern auf Dauerhaftigkeit angelegt ist. Beim Wohnen soll die Architektur Geborgenheit vermitteln und sich gleichwohl nicht in den Vordergrund drängen, denn gemütlich sind die Menschen selber – wie es der Wiener Kritiker Karl Kraus formuliert hat.

Doch den Rahmen dafür zu bauen hat es in sich: Neben repräsentativen Fassaden gilt es die Vorzüge der Lage am Ort, die weitläufigen Aussichten über die Stadt oder den schönen Baum im Garten oder Hof in den Blick zu rücken und so einen sinnlichen Zugang zum Ort zu bauen.

Das zeigen Kessel und Züger Architekten mit dem großzügigen Wohnhaus in Berlin-Dahlem, unweit vom Grunewald. Die moderat moderne Straßenfassade des Bestands aus den 1950er Jahren gab beim Um- und Anbau den Takt vor. Die Erweiterung um zwei neue Volumen integriert den Bestand zum Ensemble. Aus dem axialen Zugang entwickelt sich eine Sequenz von Räumen mit wechselnden Proportionen und Raumhöhen, die bis in den Garten führt. Gezielt gesetzte Oberlichter bewahren die Intimität der Räume, während breite Fenster Ausblicke in den Garten zelebrieren. Im waldartigen Baumbestand des Quartiers ist die Idylle bereits angelegt, aber erst der Bezug zum Garten kreiert den paradiesischen Ort.

Am Ensemble weiterbauen


Bei jedem Projekt stellt sich die Frage von neuem: Wie ist es heute möglich, sich den baulichen Bestand so eigen zu machen, dass ein Ensemble entsteht? Mit dieser Schlüsselfrage verfasst der Architekturtheoretiker Albert Kirchengast sein Buch Weiterbauen an Dorf, Siedlung, Stadt. Auch Kessel und Züger suchen in ihrer Arbeit nach Bauten, die mehr sind als Einzelkämpfer, die nach etwas Gemeinsamen streben. In unserer individualistisch geprägten Gesellschaft ist das eine Herausforderung. Gleichzeitig machen wir immer wieder die Erfahrung, dass Ensembles, nicht Einzelobjekte unsere Erinnerung prägen. Bei genauem Hinsehen sind solche Orte nicht auf die Architektur zu reduzieren, denn auch alte Bäume, verwitterte Gartenmauern oder historische Bestandsgebäude prägen sie gleichermaßen. Solche vielfältigen Spuren schaffen erst einen „Ort der Zuneigung“, wie es Kirchengast meint, als reichhaltiges Ensemble.

Ob bei der Keksfabrik für die Familie Bahlsen oder am Hauptsitz des traditionellen Blumen-Lieferdienstes Fleurop (alle in Berlin), beiden Erweiterungsprojekten gemeinsam ist der Antrieb, beim Weiterbauen den Bestand und den Ort zu stärken. Das Vorgefundene soll nicht alt aussehen, sondern gefeiert werden. Dafür ist es nötig, sich mit Empathie auf eine Situation einzulassen. So kann etwas Unverwechselbares wachsen.

Bezüge zum Ort bestimmen auch das Wohnensemble Carlstadt in Düsseldorf. Während die Straßenfront auf die Gestaltungssatzung des Quartiers reagiert, erinnert der Hofflügel in Backstein an die Remise, die einst auf dem Grundstück stand. Längst sind die Handwerker aus diesem Stadtteil ausgezogen, heute wird in den Höfen gewohnt. Gleichwohl lebt im roten Ziegel etwas von der Geschichte des Ortes weiter.

Nähe zu den Dingen


Kessel und Züger Architekten schätzen das Handwerk und Materialien, die auch das sind, was sie versprechen. Gut gemachte Dinge halten länger und sind reparaturfähig. Wegwerfarchitektur, wie der Mailänder Architekt Vittorio M. Lampugnani es nennt, ist auch ihnen ein Graus. Florian Kessel und Roland Züger treten der Erfindung der Obsoleszenz entgegen und damit gegen eine Industrie, die uns weis machen will, wann etwas veraltet ist. Das mag heute etwas aus der Zeit gefallen sein, aber ist es nicht ein Gebot der Stunde? Schön gestalteten Sachen wird länger Sorge getragen. Die Sinnlichkeit liegt in den Dingen. Um zu bleiben, müssen sie gut altern können. So werden die Dinge mit der Zeit schöner, weil auch Geschichten und Erinnerungen mit ihnen verbunden werden.

Neugierde als Motor


Seit 2010 führen Florian Kessel und Roland Züger ihre Gespräche nicht mehr in der Bibliothek, sondern in ihrem gemeinsamen Büro. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Projekt entstanden, allesamt angetrieben von einer ausgeprägten Sorgfältigkeit und einer Passion für das Detail. Das breite Interesse der beiden spiegelt sich im Spektrum an Bauaufgaben. Von der Zahnklinik über den Universitäts-Hörsaal bis zum Studierenden-Wohnheim spannt sich eine breite Palette an Projekten auf, die sich auch hinsichtlich Stil oder Material kaum wiederholt. Immer bleibt das Spezifische des Orts und der Aufgabe im Fokus.

Als Chefredaktor der Schweizer Architekturzeitschrift werk, bauen + wohnen ist Roland Züger mit den aktuellen Diskursen der Architekturwelt vertraut. Diese Inputs bereichern den Austausch mit Florian Kessel, der das Büro in Berlin führt und mit der Ausführung sämtlicher Projekt betraut ist. Beide verbindet eine unbändige Neugierde als Motor auf der Suche nach Neuem.

Ausstellung „Swiss Shapes“, Galerie Aedes, Berlin

Ausstellung „Swiss Shapes“, Galerie Aedes, Berlin

Ausstellung „Himmlischer Glanz – Raffaels Madonnen“, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden

Ausstellung „Himmlischer Glanz – Raffaels Madonnen“, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden

Einfamilienhaus, Berlin-Dahlem

Einfamilienhaus, Berlin-Dahlem

Wohnensemble Bilker Straße, Düsseldorf Carlstadt

Wohnensemble Bilker Straße, Düsseldorf Carlstadt

Wohnensemble Bilker Straße, Düsseldorf Carlstadt

Wohnensemble Bilker Straße, Düsseldorf Carlstadt

Mitarbeitergebäude Bahlsen, Werk Berlin-Tempelhof

Mitarbeitergebäude Bahlsen, Werk Berlin-Tempelhof

Zahnarztpraxis, Wachtendonk

Zahnarztpraxis, Wachtendonk

Hörsaal, Charité-Campus, Berlin-Mitte

Hörsaal, Charité-Campus, Berlin-Mitte